Mein Urgroßvater ist 1879 geboren, in ärmlichen Verhältnissen, und auch für ihn gab es keine Arbeit in der Heimat. Zu einer Zeit, als viele nach Amerika auswanderten, nahm er einen Weg von etwas mehr als zweihundert Kilometern in Angriff und erreichte Oberbayern.
Die Gegend, in die es meinen Urgroßvater verschlug, kennt noch heute ein großes Moor. Wenn man es auf Google Maps findet, sieht man eine riesige dunkle Pfütze mitten in der Landschaft. Ein gesundes Moor sieht anders aus. Es ist keine dunkle Pfütze, sondern eine nasse Graslandschaft mit einigen witzigen Pflanzen (etwa den flauschigen Wollgräsern).
Ein solches gesundes Moor trägt einen wertvollen Rohstoff in sich, etwa einen halben Meter unter seiner wässrigen, bunten Oberfläche. Der Rohstoff heißt Torf und wir kennen ihn heute noch aus dem Baumarkt, weil wir mit ihm unseren Blumenzwiebeln Nährstoffe geben. Getrocknet wurde Torf auch lange Zeit zum Heizen verwendet. Inzwischen ist uns Menschen aufgefallen, dass Torfabbau ziemlich umweltschädlich und hässlich ist, weil es aus einem lebendigen Moor ein totes Loch in der Erde macht – deshalb wird in Deutschland seit einigen Jahrzehnten kaum mehr Torf abgebaut. Stattdessen versucht man, die Moore zu renaturieren, das heißt, wieder in ihren alten Zustand zu bringen.
Zu der Zeit, als mein Urgroßvater nach Arbeit suchte, hat man allerdings noch fleißig „Torf gestochen“. Mein Urgroßvater war froh um die Arbeit und verdiente sein Geld.
In der Gegend war er bald bekannt. Denn, das weiß ich von meiner Großmutter, er war der Hexerei mächtig und nutzte diese für Fluch und Segen. Die folgenden Geschichten werden euch sicherlich überzeugen; mich haben sie überzeugt, jedenfalls in meiner Kindheit.
Einmal, nachdem mein Urgroßvater von einem Dachdecker übel beschimpft worden war, verfluchte er den Übeltäter. Dabei dachte mein Urgroßvater intensiv an den Bösewicht, dann zertrat er die Speiche eines Rads. Da schrie der Dachdecker auf und fiel vom Dach – die 1920er waren martialische Zeiten.
Gutes tat er aber auch. Er konnte, so berichtete meine Großmutter weiter, Brüche „überbeten“.
Das braucht vielleicht eine Erklärung. Es ist so: Der menschliche Körper hat mehrere Gewebeschichten, die verhindern, dass Eingeweide im Körper herumrutschen. Als Bruch bezeichnet man landläufig einen Riss in diesem Gewebe. Man hat dann Ausbeulungen im Bauch- oder Leistenbereich, weil zum Beispiel der Darm aus dem Loch herausrutscht. Das schmerzt nicht und ist nicht schädlich, solange der Darm sich nicht blöd verdreht (wenn das passiert, stirbt man allerdings qualvoll).
Ein Bruch trifft unter anderem Leute, die oft schwer heben, deshalb war es zu der Zeit meines Urgroßvaters in der Arbeiterschaft ein bekanntes Problem. Bindegewebe kann wieder zusammenwachsen und starke Muskeln stabilisieren den Körper auch, deshalb kann ein kleiner Bruch auch wieder verschwinden. (Trotzdem ist ein Bruch auf jeden Fall ein Grund, einen Arzt aufzusuchen! Auf jeden Fall!) Mein Urgroßvater, kein Arzt, aber Hexer, wusste um eine Behandlungsmethode und seinen Angaben gemäß war diese magischer Natur. Meine Großmutter wünschte sich immer, er hätte es ihr beigebracht. Schön, wenn wir das heute hätten!
Berichte wie die über meinen Urgroßvater haben mich als Kind fasziniert und ich habe sie geglaubt. Heute bin ich etwas älter und etwas kritischer geworden. Wenn ich in Sagen, Legenden oder Berichten über mittelalterliche Magievorstellungen (sehr trocken!) schmökere, dann erfasst mich dieses Prickeln, dieses „was wäre wenn“. Gleichzeitig staune ich auch darüber, wie sich die Menschen früher die Welt erklärt haben.
Heute wissen wir mehr, aber wir sind immer noch die gleichen Menschen wie damals. Ob Märchen wie das vom Rotkäppchen (1812 von den Brüdern Grimm in ihre Kinder- und Hausmärchen aufgenommen und wohl wesentlich älter), ob die Erzählungen vom Leben meines Urgroßvaters zwischen 1879 und 1955, oder unser Erleben heute in düsteren, nebeligen Gegenden, all das basiert darauf, dass wir unwillkürlich nach Ungeheuern und sagenhaften Gestalten Ausschau halten. Die Welt unserer Vorfahren hat mehr Platz gelassen, sich zu ängstigen, sich zu wundern, auch, die Taten guter oder böser Geister zu erwarten. Aber heute geht das immer noch – und wir tun das auch, mehr oder weniger bewusst. Es gibt ja noch diese dunklen Ecken im Alltag, bei den Nachbarn in der Stadt (die man nicht gut kennt) oder auf dem Weg in der Dunkelheit.
Mich faszinieren diese dunklen Ecken, ob übernatürlich oder ganz real. Fantasy bedeutet mir am meisten dort, wo sie sich auf leisen Sohlen anschleicht und die Schreckmomente erzeugt, die einen Menschen seiner Gewohnheiten und seiner Erfahrungen berauben, um zu beleuchten, was ihn wirklich ausmacht.
Aber wer bin ich eigentlich? Wenn du mehr über den Urenkel eines Hexers wissen willst, geht es für dich weiter in Teil 2: Von verbotenen Wiesen zu geisterhaften Zwischenwelten.
Mein Urgroßvater konnte zaubern, mich hat als Kind der Holzfuchs verfolgt. Heute treffe ich regelmäßig Untote – nämlich in der Früh auf dem Weg zur Arbeit.
Meine ganze Geschichte erfährst du hier: