Vom Denken und vom Arbeiten

Im Deutschunterricht, sechste Klasse, nimmt man Phantasieerzählungen durch. Wir hatten alle viel Spaß, aber ich blühte regelrecht auf. An diese kurze Zeit denke ich heute noch gern zurück. Aber sie ging auch viel zu schnell vorbei. Ehe mir klar wurde, was geschah, war die Schulaufgabe geschrieben und der Lehrer hatte seine Pflicht getan. Über das Schreiben hatte ich nichts gelernt. Stattdessen ging es wieder zurück in den müden Trott des sonstigen Deutschunterrichts. Wahrscheinlich lernten wir, Satzbestandteile lateinisch zu benennen.

Beruflich wollte ich später mit Dinosauriern arbeiten, Astronaut war auch eine Option. Mit meinem Vater steckte ich Dioden zusammen und tippte Kommandozeilen in frühe PCs. Ich hatte also eine gewisse Auswahl an Möglichkeiten. Der Beruf Schriftsteller ist mir nicht in den Sinn gekommen. Das könnte am Deutschunterricht gelegen haben.

Ein jugendlicher Abstecher in die Philosophie

Ich besuchte ein humanistisches Gymnasium, mit Latein und Altgriechisch als erste und zweite Fremdsprache. Meine Mitschüler und ich, wir waren alle ein wenig verkopft. Mit Vorgaben wie Fleiß und sauberer Logik haben wir uns bald arrangiert und uns hat sich eine Welt des Nachdenkens eröffnet. Relativ schnell merkte ich, dass ich gut argumentieren und herleiten konnte. Ich fand das nicht nur cool (was man alles cool finden kann …), ich fand es auch schön und konnte mir vorstellen, mich dieser Sache zu verschreiben. Naheliegenderweise sah ich mich zuerst im alten Griechenland um.

Eine ganze Geschichte ist eine, die Anfang, Mitte und Ende hat.
Sinngemäß nach Aristoteles, Poetik

So wie er hier steht, wirkt der Satz schon ein wenig dünn. Die Erklärung aber ist spannend. Was Aristoteles meinte (und weiterhin ausführte), war: Diese drei Teile müssen alle auffindbar sein und sie müssen sich aufeinander beziehen, sonst wird daraus keine runde Sache. Hast du keinen Schluss, findet niemand die Geschichte schön. Und wenn der Schluss mit dem Anfang nichts mehr zu tun hat, hast du möglicherweise eine kultverdächtige Groteske erschaffen, wie Quentin Tarantino mit From Dusk Till Dawn, aber wahrscheinlich ist der Text einfach nur schlecht.

Platons Sokrates faszinierte mich. Bei seiner Hebammenkunst ging er mit seinem Gesprächspartner von einer gemeinsamen Grundannahme aus. Dann leitete er sein Gegenüber mit Fragen durch ein Für und Wider, bis am Ende eine schlüssige Argumentation dabei herumkam. Er half also dem Anderen, das Argument zu verstehen, so wie die Hebamme bei der Geburt hilft, aber selber nicht drücken kann. Zufälligerweise lief es immer auf etwas hinaus, was Sokrates richtig fand.
Ich traf die Sophisten, die mit schlüssig klingenden, aber bewusst absurden Argumenten moderne Verkaufstechniken vorwegnahmen, und später wagte ich mich auch an Kant, Hegel und Nietsche heran – das aber blieb fruchtlos. Ein bekanntes Beispiel:

Handle so, daß die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne.
Immanuel Kants kategorischer Imperativ

Ich hatte ja erwähnt, dass ich vom Land komme. Und deswegen muss ich beim kategorischen Imperativ immer an ein altes Sprichwort denken:

Was du nicht willst, was man dir tu, das füg auch keinem andern zu.
Volksmund

Im Ethikunterricht haben wir die zwei Sätze sogar verglichen. Verrückt!
Mir reicht die Variante des Volksmunds aus. Ich finde, er hat die schönere Formulierung. Sie ist eingängiger, klarer und kommt mit weniger langen Worten aus. Mir wurde klar, dass ich das Schärfen von Worten und Verstand an sich gar nicht suchte. Ich wollte etwas über das Leben und die Welt lernen, aber ich wollte keinen Elfenbeinturm. Ich beschloss, Psychologie zu studieren.

Drei Jahre Arbeit für zwei Jahre Zweifel

In der sechsten Klasse hatte ich fast nur Einser im Zeugnis. Dann hänselten mich meine Klassenkameraden als Streber, mit den Lehrern verstand ich mich nicht gut und wahrscheinlich kam ich in die Pubertät. Jedenfalls sank mein Notendurchschnitt von der siebten bis zur neunten Klasse stetig ab.
In der zehnten Klasse fand ich heraus, dass man für Psychologie einen bestimmten Notenschnitt brauchte. Ich nahm mir fest vor, schon in derselben Klasse wieder mehr zu lernen, begann es dann in der Elften tatsächlich und schaffte in der 13. Klasse den Schnitt punktgenau.

In den zwei Jahren darauf habe ich Psychologie gern studiert. Es ist ein schönes und interessantes Fach. Ich habe verschiedene Praktika in Berufen gemacht, die ich später hätte ausüben können. Alles wirkte so, als ginge es seinen Weg. Aber dann wurde mir Angst und Bange. Denn die Berufe waren entweder forschend (was mir schnell ähnlich trocken vorkam wie die Philosophie) oder helfend (als Therapeuten im weitesten Sinne, wozu ich mich emotional nicht gewappnet fand). Deshalb bin ich heute kein Psychologe. Und doch hat das Fach in mir etwas berührt. Wenn ich heute Geschichten lese oder schreibe, dann suche ich nach eigenwilligen und glaubwürdigen Charakteren. Solchen, die man im Leben treffen kann.

Ich hatte gerade zum zweiten Mal in dieser Woche meine Faust erhoben. Was wohl mit mir los war? Ja, ich hatte dem Kollegen im Rettungswagen die Nase gebrochen. Aber ansonsten hatte ich mir nie was zu Schulden kommen lassen. Ich war keine Gefahr oder sowas. Meine Träume hatte ich unter Kontrolle – ebenso die Tagträume. Ich hatte nie jemandem irgendwas Schlimmes getan, und der besagte Arbeitskollege hatte es ja gewissermaßen verdient. Der Rettungsdienst hatte meine Träume immer besänftigt. Was war inzwischen anders?
Vor einem der Spiegel blieb ich stehen. Meine Wangen wirkten eingefallener als sonst, das Hemd klebte mehr an meinen Rippen als an meinen Muskeln. Ich war wohl, nach so langer Zeit, am Limit angelangt. Ich würde dringend etwas ändern müssen.
Aus: Ben Vogt Hexenjagd

Zum Ingenieur

Mit Psychologie hatte ich eine falsche Entscheidung getroffen, das war jedenfalls, was ich damals dachte. Ich war frustriert, wollte mich nicht als Studienabbrecher sehen und wusste nicht weiter. Ich hatte kein Fach, von dem ich hätte sagen können: Das ist mein Leben.
Aber ich hatte Möglichkeiten. Vielleicht nicht mit Dinosauriern oder als Astronaut, aber mit Dioden und dem PC. Mein Vater war Ingenieur, er war glücklich und verdiente recht gut. Immerhin.

Ich schrieb mich für Elektro- und Informationstechnik ein. Es funktionierte. Ich kam nie mehr auf die guten Noten, auf die ich doch ein wenig stolz gewesen war, aber ich mochte die Zeit. Sie war betriebsam, klar strukturiert, fordernd.

Heute hilft sie mir bei meiner Schreibarbeit. Mir ist inzwischen klar, warum sich unter den Autoren neben Literaturwissenschaftlern und Journalisten auch viele Naturwissenschaftler und Ingenieure finden. Ich habe das Planen gelernt. Ich will Texte so schreiben, wie ich Code programmieren will (schön; klar; prägnant). Physik und Technik haben mir beigebracht, die Geschichte erst freizulassen, wenn sie ihre eigenen Naturgesetze akzeptiert. Wie hier:

Ich stand im Finstern und wusste, ich würde das Schlüsselloch nehmen.
Meine Fingerspitzen rissen auf, mein Körper verwandelte sich in dicke Asche. Das Loch kitzelte bereits ein bisschen.
Arme und Schultern folgten, da zog es kräftig am Hals. Alles wurde still, die Welt verzerrte sich, und schließlich wurde sie schwarz. Dafür spürte ich jede Rille im Holz der Tür, jeden vergessenen Grat am Schloss. Ich wirbelte im Schließmechanismus umher, das machte Spaß, wie bei den Rutschen im Schwimmbad. Dann schob ich ein Auge auf der anderen Seite heraus. Vor mir lag ein dunkler Flur. Am Ende flackerte unregelmäßiges Licht, vielleicht von einem Fernseher.
Aus: Ben Vogt Hexenjagd

2011 war ich mit dem Studium fertig und ich war zufrieden. Fast zufrieden. Denn eine Entscheidung wurde fällig. Im nächsten Teil geht es um meine ersten Autorenjahre.

Über mich

Mein Urgroßvater konnte zaubern, mich hat als Kind der Holzfuchs verfolgt. Heute treffe ich regelmäßig Untote – nämlich in der Früh auf dem Weg zur Arbeit.
Meine ganze Geschichte erfährst du hier:

×